Mit Rad up Pad – in der Krummhörn

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Warum in die Ferne reisen, die Krummhörn liegt doch so nah! Der ostfriesische Landstrich an Ems und Küste ist ein Traumland für RadfahrerInnen. Hier kreuzen sich mehrere Themenradwege. Thomas Schumacher kreuzte quer durch die wilde Krummhörn und schrieb diese Liebeserklärung.
Mittwochmorgen. Emder Hauptbahnhof. 7h20. Nebel. Sechs Grad. Zu früh. Zu kalt. Sicher nicht der optimale Beginn einer Radtour. Über die Eisenbahnbrücke geht es noch ungemütlich durch Gewerbegebiete.

Danach, bei der Larrelter Mühle, umfängt einen die Krummhörner Wildnis. Rehe, Wiesenweihe, Reiher, Kaninchen, sogar ein echter Hase. Ein wunderschöner, landwirtschaftlicher Betriebsweg  leitet aus dem Morgenverkehr heraus in die dampfende Marsch nach Groß-Midlum. Die Lunge öffnet sich. Ostfriesland beginnt zu glühen!

Groß-Midlum ist nicht gerade New York. Aber der Weg durch die Marsch und Allee ist Radwellness pur. Der Bauer war früh auf den Beinen und hat die kalte Erde mit seinem Pflug aufgerissen. Aus den Furchen dampft die Lava aus dem Erdinneren. Die Krähen schmachten nach Essbarem und auf dem Siel dümpeln Stockenten. Ein erster Schweißtropfen kullert über die Nase.

Krummhörner Gesicht

Die Krummhörn hat ein Gesicht.

Die Dörfer sind wie Perlen aufgereiht an drei Straßen. Alte Baudenkmäler, Gulfhöfe, Arbeiterhäusern und Kirchen. Sie ist der Ort hehrer ostfriesischer Geschichte. Die Krummhörn ist das Kernland der Piraten, Heiligen und Häuptlinge. In Europa einzigartig dürfte die Ballung von berühmten Orgeln und mittelalterlichen Kirchen sein.

Wie Land gegen das Meer verteidigt wird, wie es entsteht und kultiviert werden kann, die Krummhörn ist für den Interessierten „lesbar“ als ein Stück Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Ihre Landschaft ist aus dem Binnenland bis zur Küste sehr unterschiedlich. Ein gängiges Vorurteil Ostfriesland gegenüber besagt, das Land sei flach. Die Mäkler kennen die Krummhörner Alpen nicht.

Ganz, ganz sacht steigt der Radweg aus der Polderebene  an. Bei Gegenwind ein Oberschenkeltöter. Bei Gegenwind und Nieselregen eine Plage. „Sie haben so schöne Satteltaschen. Wo kann man die kaufen“, schnauft eine schwer mit Taschen beladene, ältere Radlerin zwischen Woltzeten und Campen mir nach. Ich hatte gerade so einen guten Tritt. Also kaulen. Proten, snaken, quatschen. Kann passieren. Wann kommt man schon mal nach Woltzeten. Der Weg ist schön. Einsam. Mittendrin, es ist nicht zu fassen, ein alter Gulfhof, das „Spiegelhaus“.

Wie immer gibt es einige Legenden um dieses Haus. In der Nähe soll ein Kloster gestanden haben, dessen glasierte Dachziegel spiegelten die Strahlen der Abendsonne in die Fenster dieses Hauses. Jetzt „spiegelt“ ein kryptischer Wegweiser zur Bedienung des Hobbycafes: „Bin beim Schwein“.
Verfahren Sie sich in der Krummhörn. Spätestens nach drei vier Kilometern treffen Sie wieder Menschen. Alle Radwege, bis auf wenige Ausnahmen, sind gut ausgeschildert, und mit Kindern exzellent befahrbar. Nur zwischen Greetsiel und Norden führt die ausgeschilderte Strecke über eine Landstraße, die sehr verkehrsreich ist. Unverständlich, warum hier nicht radfreundliche Wege geschaffen wurden.

Halten Sie sich deswegen soweit es geht direkt an den Deich. Als Orientierung reicht eine Übersichtskarte und der eine oder andere Tipp, den die Fremdenverkehrsbüros gerne geben oder in Form von Flyern parat halten. Da ist der Rundweg mit Rad up Pad. Der Weg zu historischen Baudenkmälern „Anno – Route der Baukultur“ mit zwei Ausgaben.

Schnappen Sie sich ein Fahrrad und entdecken die Krummhörn

Die niedersächsische Mühlenstraße, die Gartenroute und so weiter. Aber schöner als ein Rundweg ist alle Mal ein kreuz- und querfahren abseits der drei „Hauptstraßen“. Ein Tipp: Mieten sie sich in einem alten Gemäuer ein, schnappen Sie sich ein Fahrrad und entdecken die Krummhörn.

Rundwarf Loquard, C Kay Gottschalk Rundwarf Loquard, Copyright: Kay Gottschalk

Die Dörfer

Mit dem Auto schlüpft man schnell über die Landesstraße an Grimersum vorbei. Schade! Greetsiel mag ja einzig sein, versuchen Sie es trotzdem mal mit Grimersum,  Rysum oder Pilsum. In diesen Dörfern wird gelebt und nicht nur geshopt. Grimersum ist neben Groothusen eine Längswarf, die anderen Orte klassische Rundwarfen. Die wurden gegen die Sturmfluten aufgeschüttet, obenan die Kirche gebaut und die Häuser drumherum gruppiert.

Die stolzen Gulfhöfe liegen meist am Dorfrand, dazwischen Arbeiterhäuser, Schmieden oder ehemalige Handelskontore.  Für den Radfahrer heißt es absteigen. Man erklimmt die Krummhörner Alpen besser zu Fuß. Jedes Dorf hat seinen eigenen Charakter. Und leider gibt es im jedem Dorf ausgeschlagene Zähne. „Wir kämpfen seit Jahren darum, das Wesentliche in unseren Dörfern zu erhalten“, sagt Insa Uphoff, Mitbegründerin von ANNO, GESELLSCHAFT ZUR ERHALTUNG OSTFRIESISCHER KULTUR- UND BAUDENKMALE E. V. Der Verein setzt sich seit Jahren für den Erhalt der ostfriesischen Baukultur ein. Neben Frau Uphoff haben schon einige Mitglieder des Vereins den Niedersächsischen Preis für Denkmalspflege erhalten. „Das ist alles private Initiative“, stellt Insa Uphoff  heraus. Leider lässt die Gemeinde dieses leidenschaftliche Engagement vermissen.

Grimersum ist ein Traumdorf

Aber auch dort verfällt im Dorfkern ein Gulfhof. Von der Kirche aus gesehen, am Ende der Längswarf  liegt der Ort der alten Beninga Burg. Ein Trümmerhaufen. Eggerik Beninga war der erste ostfriesische Geschichtsschreiber, ehemaliger Statthalter von Leer und enger Berater der Gräfin Anna, der Mutter von Edzard II. Ein historischer Lichtmoment in der düsteren Geschichte ostfriesischer Häuptlinge. Anna regelte in Ostfriesland das Justizwesen und führte die Schulpflicht ein. In Loquard steht eine Schule, die von ihr gegründet wurde. Auch ein restauriertes ANNO-Haus direkt neben der Kirche. Der Türsturz der ehemaligen Schule aus Sandstein ziert jetzt als Küchen-Portal das Haus der Familie Marquardt-Kayser.

In Freepsum werden Sie zum „Tiefsten Punkt“  Deutschlands gelockt

Das ist  – Entschuldigung – Quatsch. Der tiefste Punkt Deutschlands liegt in Schleswig- Holstein. Aber der ausgewiesene Platz ist wunderschön. Auch wenn da ein „Meer“ sein soll, was es auch nicht gibt. Das Moor wurde im 19. Jahrhundert entwässert und urbar gemacht.

Pilsum ist der Geheimtipp

Nicht nur wegen der vorzüglichen Gastronomie!! Nicht nur wegen des windschiefen Kirchturmes einer imposanten Kirche. Durch Pilsum muss man schlendern. Pilsum muss man atmen. Im Käsehof naschen. Die Galerie in der alten Bäckerei besuchen und sich in die absolut chaotisch schöne Küche führen lassen. Vielleicht rückt Galeriechef Skudelski einen Tee heraus. Der Friedhof neben der Pilsumer Kirche öffnet ein dunkles Kapitel ostfriesischer Geschichte.

Der Grabstein der Häuptlingsfamilie der Tjards lässt keinen Zweifel am Ursprung des Reichtums dieser Leute. Im Hauswappen führen die Tjards den Black Jack, das Erkennungszeichen der Piraten. Wie viele ostfriesische Häuptlinge paktierten auch die Tjards mit den Seeräubern und bekamen von deren Beute (zum Beispiel Hamburger Bier) ihren Teil ab.
Ein absoluter Leckerbissen wartet dann doch noch in Greetsiel. Am Dorfrand neben einem Altenheim steht ein fast lupenreiner Mittelalterbau mit Renaissancefenstern. „Es kann angenommen werden, dass dies der erste Greetsieler Wohnsitz der Grafenfamilie Cirksena war“. Der Mann, der das sagt, ist oberster Denkmalpfleger des Landkreises Aurich und gleichzeitig Hausherr. „Dies Haus ist eigentlich nicht zum Wohnen“, sagt Jan Smidt, „es ist eine Lebensaufgabe.“ Er hat sich zum Ziel gesetzt, das ehemalige Turmhaus in seinen „Urzustand“ zu versetzen. Das bedeutet erst einmal den Abriss aller zeitfremden Elemente. Dann müssen Handwerker gesucht werden, die alte Bautechniken beherrschen. In ganz Europa muss nach zeittypischen Baumaterialien und Möbeln gesucht werden. „Fertig“ ist nach jahrelanger Restauration der ehemalige Teil des Hauptturmes.

Das untere Repräsentationszimmer ist karg, aber eindrucksvoll. Jeden Moment könnte Graf Edzard durch die Tür schreiten. Die Fenster, das Mauerwerk, der Kamin, der Grafentisch, mit viel Liebe zum Detail (und einigem Geld) arbeitet Smidt an seinem Traum.

Die Landschaft

Im Osten wird die Krummhörn von den Bundestraßen zwischen Emden und Norden/Aurich begrenzt. Im Westen hindert die Nordsee den Bewegungsdrang. Dazwischen liegt ein feinmaschiges, gut ausgebautes und beschildertes Radwegenetz. Es geht über Radwege, landwirtschaftliche Betriebswege, Deichverteidigungswege und, wenn Sie wollen, entlang der Landstraßen. Es geht durch Marsch, Äcker, Haine und entlang des Deiches von Rysum und nach Norden.

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Auf dieser Strecke finden Sie bei Pilsum auch Omas Liebling den  „Otto-Turm“ bei Pilsum.

In regelmäßigen Abständen können Sie von dem Deichverteidigungsweg in die einzelnen Hauptdörfer abbiegen. Die Parallelstrecke entlang der Landstraße ist zu Stoßzeiten recht verkehrsreich.  Für eingefleischte Nordseefans ist es sicher reizvoll die gut 30 Kilometer zwischen Rysum und Norden auf dem Deichweg zu fahren und ab und an über den Deichrand zu schauen.

Sehr entspannend und abwechslungsreich sind auch die Wege ab Emden in östlicher Richtung durch die Gemeinde Hinte über Groß-Midlum, Grimersum nach Greetsiel zu radeln. Teilweise verlaufen die Radwege entlang der alten Küstenlinie aus dem 17. Jahrhundert. Denn damals hatten viele  Dörfer der Krummhörn eigene Zugänge zum Meer.

So etwa konnte die Legende um den Piraten Störtebecker entstehen, der im Hafen von Marienhafe Unterschlupf gefunden haben soll. Wundern Sie sich also nicht, wenn sie weit im Binnenland auf einen Altdeich treffen. Innerhalb von 200 Jahren entstanden durch Eindeichungen und Trockenlegungen 13 neue Polder.

Es empfiehlt sich unbedingt ein Fernglas mit auf die Tour zu nehmen. Denn die Krummhörner Wildnis wächst sich zu einem wahren Zoo aus. Für Hobbyornithologen sind die Salzwiesen, Meeden und Haine Orte reinen biologischen Entzückens. Hier steppt zwar kein Bär, aber es trudeln mitunter Tausende von Vögeln ein:  Brachvogel, Kiebitze, Schnepfen, Austernfischer, Reiher, Grünschnabel und zu bestimmten Jahreszeiten die Wildgänse.
Bleibt zum Schluss noch der nicht unwichtige Hinweis, dass die Krummhörn auch kulinarisch eine feine Sache ist. In einigen Dörfern gibt es gemütliche Landgasthäuser oder sogar noch Tante-Emma-Läden, in denen man sich versorgen kann. Und nach einer Tour ist gegen einen leckeren Imbiss und ein süffiges Kaltgetränk doch nichts einzuwenden?!


Interview

Insa Uphoff war Bäuerin in Uttum und lebt jetzt in Pilsum. Man kennt sie. Sie ist Mitbegründerin von „ANNO“, einem Verein mit 350 Mitgliedern. ANNO hat sich den Erhalt und der Restaurierung historisch wertvoller Gebäude zur Aufgabe gemacht.

Thomas Schumacher: Was macht für Sie die Krummhörn aus?
Insa Uphoff: Die Menschen, die bäuerliche Landwirtschaft und die Häuser geben der Krummhörn ein Gesicht. Wenn die Menschen ihre sozialen Kontakte verlieren, wenn aus Landwirtschaft Industrie wird und wenn die Häuser abgerissen werden, wird unsere Umwelt belanglos.
TS: Sie wünschen sich das Fest der deutschen Volksmusik auf allen Dorfplätzen der Krummhörn?
IU: Wir sind kein rückwärts gewandter Traditionsverein. Wir sind moderne Menschen. Ich glaube, wenige leben in solch ökologisch und technisch modernen Häusern wie unsere Mitglieder. Wir wollen nur nicht beliebig leben, sondern bewusst. Dazu gehört auch der Erhalt der kulturellen Identität Ostfrieslands.
TS: Das ist eigentlich ein politischer Anspruch.
IU: Natürlich – ein sozialpolitischer Anspruch. Warum geben wir jungen Familien nicht Geld, damit sie zum Beispiel alte Häuser sanieren können und wieder in den Dörfern leben wollen? Ein Dorf braucht Leben.

Info

– Galerie Skudelski Mi – So 14h – 18h
Tel.: 04926/  12 44
– ANNO: www.ANNO-OSTFRIESLAND.DE, Dorfführungen Pilsum und Groothusen.
Die Radwegenetz-Karte mit dem Knotenpunktsystem Krummhörn-Greetsiel ist in den Tourist Informationen in Greetsiel und Pewsum erhältlich! Preis: 2,95 €
http://www.greetsiel.de/aktiv-in-der-krummhoern/radwandern/das-knotenpunktsystem.html